Ernsthaftigkeit 

Hallo Lars,

der von Dir kritisierte Artikel  "Reality-TV Durchgetickt"  ist sicherlich nicht perfekt und kann hier und dort Hass-Reaktionen und Ablehnung auslösen. Aber gegen dieses Schicksal gibt es keinerlei Rezept, denn "glücklich" macht die meisten nur, wovon sie sich bestätigt glauben. 

Nur wenige haben Spaß daran, kritisiert, widerlegt, also nachgebessert zu werden.

Sodann ist dieser Leitartikel auch keineswegs nur gegen Rechtsextremisten geschrieben, sondern setzt schon zu Beginn rechtsextremistischen Heldenwahn in Relation zu einem historischen und allgegenwärtigen Militarismus, der nicht nur 1813 bei Leipzig die Äcker mit Blut füllte, sondern 100 Jahre später mit der Errichtung des "Völkerschlacht-Denkmals"
nachgefeiert wurde, also unmittelbar vor "Ausbruch" des Ersten Weltkriegs, in dessen verheerende Schlachten sich die Völker Europas wiederum begeistert schickten und schicken ließen - passives "Schicksal" nur für solche, die den Krieg als Verbrechen ablehnten, aber "Wille" derer, die sich aus Kriegen Gewinn versprechen und ihn verlogen als "unabwendbares Schicksal" verschleiern. Damals wie heute.

Auch im weiteren Artikeltext wird der Rechtsextremismus in verbindende Relation zur bürgerlichen Gesellschaft gesetzt, denn der Rechtsextremist hat in ihr sein Zuhause, nicht nur seine Schule und seinen PC, sondern auch sein Publikum, dem er glaubt, "Wahrheit" schuldig zu sein, allerdings eher die "Sensation", denn würde er sich mit der Wahrheit seiner eigenen Entwicklung und Misere begnügen, mit seinem "Türkenproblem", das nun wirklich nicht jeder hat, so wäre er für Medien und Publikum restlos uninteressant. 

Da braucht es also "mehr": "die Juden" und all die vermeintlich "verbotenen Themen", von denen kein einziges verboten ist, sehr wohl aber die gewollte und durch nichts zu rechtfertigende "Ehrenrettung" für eines der verbrecherischsten Regimes auf Kosten seiner Opfer zum Zwecke der Selbsterbauung einiger Ich-Schwächler. 

Trotzdem hat das sensationssüchtige Publikum teilnehmenden Gefallen an den "Tabu-Brüchen" und dem darin liegenden "Unterhaltungswert". 

Wirklicher Antifaschismus dieser Öffentlichkeit beschränkt sich auf Momente, in denen sie in besonderem Maße erfährt, dass ihnen solche Gestalten schaden: als Familie, als Schule, als Unternehmen, als Partei, als Dorf, Stadt oder Land. 

Dann eher verschweigen sie noch die Peinlichkeit - bis es knallt oder brennt.

Dann plötzlich "darf das nicht sein" und der Michel verlangt nach "härteren Strafen", was ihm die Politik sogleich populistisch verspricht, aber zwischen den "Events" die kranken Politgeister "beobachten" lässt und duldet, Erziehung und Maßregelung verpennt.

"Ernsthaftigkeit des Dialogs" bedeutet für mich nicht, dass ich nun permanent "ernst dreinschauen" müsste. Das kann ohnehin kein Mensch andauernd tun und dabei ehrlich sein.

Ernsthaftigkeit bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Kriminalität vor allem kontinuierlich betrieben wird, allerdings im Kontext mit jedweder anderweitigen Politik, die den Extremismus begünstigt, also schlechte Sozialpolitik, aggressive internationale Politik, was wir hier auch tun. 

Nur eines halte ich bei all dem für kontraproduktiv, sich mit Extremisten, gleich welcher Richtung, auf Gespräche über "Amerika", Linksextremismus, Islamismus etc. in einer Weise einzulassen, dass ihnen der Spiegel für ihr eigenes Treiben erspart bliebe.

Und in diesem Spiegel muss ihnen gezeigt werden, wie sehr sie die Menschenrechte anderer verletzen und die zivile Kultur, zu der jeglicher Hass und die Gewaltverherrlichung unvereinbar sind, so sehr sie als Teil und Makel unserer Gesellschaft verstanden werden müssten, aber eben als Defizit, als "Krankheit", die es zu kurieren gilt. Letztlich auch für sie selbst, denn die Rechtsextremisten sind nicht weniger auf Frieden und Unbeschadetheit angewiesen als jeder andere Mensch mit Friedenstaube im Herzen, weil die Haut eines jeden gleiche Dicke hat, so sehr er sich auch rüstet.

Der von Dir kritisierte Artikel ist in keiner Weise unfair, sondern wirft Licht auf die Denkschemata vieler Rechtsextremisten: beginnend mit dem unreflektierten Heldenwahn, was das Soldatische anbelangt, sodann die trotzköpfige Aufmachung betreffend, mit der sie die zivile Gesellschaft einerseits provozieren möchten, andererseits sich selbst Halt suchen, wobei es wenig mentalen Unterschied macht, ob da nun jemand vor dem heimischen Spiegel den Hitler-Gruß übt und am liebsten mit SS-Helm an Fackelzügen teilnehmen würde oder "alternativ" den Look von Skins abkupfert. Beides ist Ausdruck von Ich-Schwächen und Suche nach Bedeutungsgewinn in Kollektivkonstrukten, was sich vom Normalbürgerlichen nur dahin unterscheidet, dass sie sich in eine besonders dumme und widerwärtige Tradition stellen.

Und wir "denken uns das nicht aus", sondern wissen es eben aus eigenem Erleben mit ehemaligen Rechtsextremisten, mit denen wir wenigstens wöchentlich privat Kontakte haben.

Und deshalb wissen wir auch, wie so mancher Artikel von uns "wirkt". Gerade den von Dir kritisierte Artikel ist diskutiert, weit mehr als andere, womit ich ihn nicht gegen Kritik immunisieren möchte, aber "vertrete":-)

Grüße von Sven
Redaktion

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